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Die kleinen Gesichter der Armut E-Mail

Kinder sind häufig die Leidtragenden,wenn das Familienbudget knapp ist. Aber wer arm ist, will das oft nicht zeigen, wissen Irene Gosepath und Karin Zindler vom Kinderschutzbund.

Von Maria Lüning

„Ich bin arm." Nein, so offen sagt das kaum jemand. Obwohl 42 Prozent der Gladbecker Familien so wenig Geld haben, dass sie nur knapp oder eigentlich gar nicht über die Runden kommen. Aber die Klamotten im Second-Hand-Kleiderladen des Kinderschutzbundes (DKSB) kaufen? „Das ist doch für arme Leute. Das sind wir nicht." Hört Karin Zindler öfter, bis sich jemand endlich über die Schwelle des kleinen Ladens in der Kirchstraße traut. Weil ein Nachbar auch da war.

Armut hat viele Gesichter. Wer sie wirklich sehen will, muss genauer hingucken. „Armut wird oft kaschiert, das soll keiner sehen", ist nämlich die Erfahrung der DKSB-Vorsitzenden Irene Gosepath. Beispiele: Da tragen die Kinder zwar Markenkleidung, gehen aber hungrig zur Schule, weil es kein Frühstück für sie gab. Sie können mit dem Handy zuhause anrufen, doch wenn sie dort sind, frieren sie, weil heizen zu teuer ist. Oder die Mutter ist gestylt wie Madonna, den Kindern fehlt es aber an vielem.

Wer wenig Geld hat, „verteilt den Mangel ungleich, setzt oft falsche Prioritäten", stellen Karin Zindler und Irene Gosepath fest. Und oft holen sie sich keine Hilfe: Denn wer arm ist, schämt sich. Dabei herrscht Mangel vor allem in den Familien mit mehreren Kindern, die mit ihrem Einkommen - und oft arbeiten sogar beide Eltern -knapp über der Armutsgrenze liegen. Sie können aber keine Vergünstigungen beanspruchen wie Inhaber der Gladbeck-Card. „Sie müssen für alles voll zahlen." Für das Mittagessen im Kindergarten, für die Betreuung in der offenen Ganztagsschule inklusive Mittagessen. Karin Zindler: „Das sind dann 70 Büro pro Kind, das sitzt nicht drin." Der Kinderschutzbund übernimmt für zehn Schul- und fünf Kindergartenkinder mit Hilfe von Sponsoren die Kosten fürs Mittagessen. Irene Gosepath: „Bedarf hätten mehr."

Nicht drin im knappen Familienbudget ist auch vieles andere: Der Sportverein, die Ballettschule oder das Musik­instrument. Schon der Siebenjährige lernt, dass das Landesprojekt „Jedem Kind ein Instrument" schön klingt, ab dem zweiten Schuljahr wegen der Kosten für ihn aber nicht mehr in Frage kommt.

Und das Kind begreift: Arm sein heißt, dass Teilhabe an der Gesellschaft begrenzt ist. Denn es lernt, dass auch Bildung kostet. Deshalb sitzen 20 Kinder nachmittags in dem kleinen Raum des Kinderschutzbunds und bekommen hier die dringend benötigte Hausaufgabenbetreuung kostenlos, weil sich ihre Eltern den Besuch der OGS (Offene Ganztagsschule) eben nicht leisten können.

Armut hat noch mehr Gesichter. Früher war sie im Leben der Menschen eine Phase, heute ist „die Chance da rauszukommen, viel schwerer als vor 20 Jahren", sagt Irene Gosepath. Weil die Arbeitsplätze für Gering- oder Unqualifizierte fehlen, die es früher auch im Bergbau gab. Deshalb wird Armut und vieles, was damit einhergeht, oft „vererbt". Kinder armer Eltern bleiben arm, weil diese ihnen viele Chancen im Leben nicht geben (können). „Man muss Eltern beibringen, dass sie ihren Kindern etwas beibringen müssen, dass diese ein Recht auf Bildung, auf Gesundheit und Freizeit haben", finden die resoluten Vertreterinnen des Kinderschutzbundes. Und wenn die Eltern dies nicht tun, muss „die Allgemeinheit sorgen, dass diese Kinder nicht verloren gehen." Eine Förderung: Sie so früh wie möglich in die Ganztagsbetreuung holen, damit sie eine faire Chance im Leben haben. Irene Gosepath: „Da müsste viel mehr passieren."
WAZ 21.05.08

KOMMENTAR

Armut heute ist anders als früher

Manchmal sagen Ältere solche Sätze: „Wir waren früher doch auch arm. Und aus uns ist trotzdem was geworden." Sie müssten ehrlicherweise hinzufügen: Früher, damit ist die Nachkriegszeit gemeint, waren eben viele arm, und deshalb hatten fast alle die gleiche Chance.

Armut heute ist anders. Sie trifft nur einen Teil der Wohlstandsgesellschaft: Arbeitslose, oft auch Familien mit mehreren Kindern, häufig allein Erziehende.

Der Kinderschutzbund, einst gegründet um Kinder vor prügelnden Eltern zu schützen, hat seine Arbeit längst verändert und den Erfordernissen angepasst: Sie wollen Kinder heute vor den vielfältigen Folgen der Armut schützen. Die bittere Realität hinter den Statistikzahlen sehen sie in den Familien, die sich mit der Bitte um Hilfe an sie wenden. Wenn sie das überhaupt tun. Denn Armut gilt vielen Betroffenen als Zeichen für Versagen. Da ist es gut, wenn Andere ihren Kindern eine Chance geben. lü

Zuletzt aktualisiert am Samstag, den 27. Februar 2010 um 16:35 Uhr